Am Sonntag wählen die Türken ein neues Parlament: Die besten Aussichten hat eine muslimische, aber prowestliche Partei. Justiz und Generalstab wittern Unheil
31 October 2002
Von Michael Thumann / Zeit
Istanbul/Ankara
Er ist 67 Jahre alt und einer der beweglichsten Kleinunternehmer Istanbuls.
Ali hat seinen Stuhl auf dem Bürgersteig im Istanbuler Stadtteil Eminönü aufgeklappt, gleich hinter dem Großen Basar und in Hörweite des Muezzins der Süleymaniye-Moschee. Vor Ali steht seine alte Singer-Nähmaschine. Dazu kommen links ein Holzregal, rechts ein Haufen ausgetretener Schuhe, eine Kiste voller Sohlennägel, Lederstücke und Leimtuben. Fertig ist der Schusterladen.
“Manchmal wechsele ich zwischen zwei Paar Sandalen schnell den Arbeitsort.
Wenn’s hier zu eng wird”, sagt Ali, lacht und zeigt auf die wartenden Autos im Stau vor seiner Nähmaschine.
Auch sonst ist es eng in Alis Leben. Er hat fünf Kinder und doppelt so viele Enkel. Allein in seiner Zweizimmerwohnung leben fünf der Sprösslinge. Alis staatliche Rente wiegt nicht mehr als ein Almosen: “Kaum halte ich das Geld in der Hand, frisst auch schon die Inflation daran.” In der Familie muss jeder arbeiten, der irgend kann. Ali besaß früher einen richtigen Laden. Aber der musste einem Parkhaus weichen, auf Befehl der Stadtverwaltung. Seitdem werkelt er am Straßenrand.
Zürnt Ali den Mächtigen? “Na ja, viele sind einfach korrupt bis ins Mark.”
Alle? “Nein.” Ali hat einen Helden. “Der Erdogan war einer von uns. Er kam hierher ins Händlerviertel und fragte, was wir brauchen.” Recep Tayyip Erdogan war von 1994 bis 1998 Bürgermeister von Istanbul. “Er sorgte dafür, dass die Müllabfuhr gut arbeitete, dass die Straßen sauber wurden. Er ließ Bäume pflanzen – und vor allem: Er nahm kein Bestechungsgeld!” Erdogan verstehe einfache Menschen, sagt Ali. “Und deshalb wähle ich seine Partei …”
Er bricht plötzlich ab und hämmert schweigend auf einer Schuhsohle herum. Nur drei Meter entfernt steht ein Polizist in Zivil und hört zu. Besondere Vorkommnisse, Herr Wachtmeister? Der Lauscher zieht die Lächelmaske über und geht langsam weiter. Ali starrt auf seine Sohle. Ende des Gesprächs.
Es ist Wahlkampf in der Türkei. An diesem Sonntag bestimmen 68 Millionen Türken ihr neues Parlament. Wenige Tage zuvor deutet alles darauf hin, dass eine Partei gewinnen wird, die den Militärs und dem säkularen Establishment so gar nicht gefallen will: die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip Erdogan. Für sie, die sich als Hüter des Erbes Kemal Atatürks, als Wächter einer streng weltlich ausgerichteten Türkei begreifen, besteht die AK-Partei aus “Islamisten”, andere sehen sie als “muslimische Konservative”.
Die alarmierten Kemalisten zeigen auf die verborgenen Wurzeln der AKP: Die Partei ist aus den Trümmern der 2001 verbotenen islamistischen Tugendpartei von Expremier Necmettin Erbakan hochgeschossen. Erbakans Gefolgsleute gründeten vor gut einem Jahr die Wohlergehenspartei, der gemäßigte Flügel unter Führung von Erdogan die AKP. Ausgerechnet gegen sie hat der Staatsanwalt nun kurz vor der Wahl ein Verbotsverfahren angekündigt. Ihren Parteichef Erdogan hatten die Gerichte bereits zuvor vom Schlussspurt ins Ministerpräsidentenamt ausgeschlossen – wegen der öffentlichen Verlesung eines als islamistisch ausgelegten Gedichtes. Doch mit jedem neuen hingebogenen Justizverfahren legt Erdogan Partei in den Umfragen zu. Woher die erdrutschartige Popularität? Es sind nicht nur arme Schuster wie Ali, die der AKP zuwinken. Hinter der Partei stehen auch Besserverdienende.
Man darf sich den schnauzbärtigen Hasan Gürsoy nicht als rückwärts gewandt vorstellen, nur weil er offen bekennt, die AKP zu unterstützen. Der Inhaber einer Istanbuler Farbenfabrik hat die Ärmel aufgekrempelt, sucht rastlos nach neuen Herausforderungen. Gerade hat der 45-Jährige eine ehemalige Textilfabrik als Messegebäude herausputzen lassen. Nachdenklich zieht er in der prächtigen, leeren Halle an einer Zigarette: “Noch hat sich kein Aussteller angekündigt.” Die chronische Wirtschaftskrise sei schuld. “Und die korrupten Regierungen.” Vor acht Jahren arbeiteten 2000 Leute in seiner Farbenfabrik bei 50 Millionen Dollar Umsatz. “Heute sind noch 500 angestellt, bei 10 Millionen Umsatz.”
Ach so, und nun soll Recep Tayyip Erdogan die Firma mit ein paar Krediten retten? “Bitte nein, bloß keine staatliche Hilfe”, wehrt Gürsoy ab. “Weniger staatliche Blockadepolitik wäre besser: Streichung überflüssiger Vorschriften und klare, durchsichtige Entscheidungen der Behörden.” Will sagen: “keine Korruption”. Mit dieser schier unausrottbaren Tradition soll ausgerechnet der Außenseiter Erdogan brechen? “Er hat das schon einmal vorgemacht”, entgegnet Gürsoy, “als Bürgermeister in Istanbul.” Aber jetzt darf er nach dem Willen der Justiz nicht Premier werden, was also kann er tun? “Macht nichts, er hat dafür die richtigen Leute in seiner Partei.”
Der Vertrauensvorschuss für Erdogan AKP ist riesengroß. Vor allem bei jenen, die nicht an den Segnungen der türkischen Klientel- und Klüngelwirtschaft teilhaben. Verarmte Händlerfamilien wie die von Ali gehören dazu. Auch die mindestens zwei Millionen Arbeitslosen. Und Fabrikbesitzer wie Hasan Gürsoy.
Wie er unterstützen große Teile des so genannten Grünen Kapitals die AK-Partei. Dieser anatolische Mittelstand will über das Geschäft muslimische Traditionen nicht vergessen – im Gegensatz zu den Chief Executive Officers der säkular-globalen Industrieholdings, deren Glaspaläste die Ausfallstraßen von Istanbul säumen.
Vor 12 Jahren gründeten kleine und mittlere Unternehmer – als Gegengewicht zum Großunternehmerverband TÜSIAD – ihre Interessenvertretung: MÜSIAD. Auf sie wird heute Rücksicht genommen. Als jüngst muslimische Geschäftsleute zu Beginn der Fastenzeit Ramadan nach Mekka fliegen wollten, führte ihr Weg am Flughafen von Istanbul an einer Reklametafel für Bademoden vorbei. Auf der schmachtet eine barbusige Türkin mit Pumablick und nur angedeutetem Slip im offenbar sehr heißen Sand. Die Flughafenleitung war so umsichtig, die Reklamewand beim Einchecken der gläubigen Geschäftsleute zuzuhängen.
Pilger nach Mekka? Erst die Bademoden-Reklame zuhängen
Die Synthese aus städtischer Moderne und ländlicher Familientradition, aus kapitalistischem Geschäftssinn und Verbeugung vor muslimischen Bräuchen, aus prowestlich-linker Staatsräson und Wertekonservatismus ist nicht ganz neu in der türkischen Politik. In den achtziger Jahren verkörperte der legendäre Ministerpräsident Turgut Özal diese Mischung. Er versöhnte die historischen Gegensätze der türkischen Gesellschaft, er war religiös und stieß sein Land voran in die Moderne.
Könnte die AKP ihm nachfolgen? Ihre Parteizentrale in Ankara sieht schon mal sehr fortschrittlich aus: ein fünfstöckiger Palast aus prowestlich anmutendem Glas und Stahl. Davor hängen, als anatolische Draufgabe, kunterbunte Wimpel mit einer aufgemalten Glühbirne, dem Wahrzeichen der Partei. Recht originell und nicht ganz frei von populistischen Zügen ist auch die Entstehung der Partei und ihres Programms. Erdogans PR-Berater starteten eine landesweite Umfrage und wollten wissen, ob die Leute eine neue, unverbrauchte Partei wünschen, welches Programm sie haben sollte, welchen politischen Führern sie vertrauen. Das Ergebnis war die AKP.
Die Kleiderordnung entscheidet über das politische Überleben
Parteiführer Recep Tayyip Erdogan sitzt im Kreise seiner meist jungen Getreuen. Er thront fast, so groß ist die Ehrfurcht der oft in Amerika oder Deutschland ausgebildeten Ökonomen und Juristen um ihn herum. Doch immerhin: Er hat es geschafft, junge, kluge Leute in seine Partei zu holen. Kompetente Unternehmer wie Ali Babacan und Cuneyd Zapsu haben ihre Spitzenjobs in der Wirtschaft aufgegeben, um Erdogan zu beraten. Mit Erfolg: Auf der Internet-Seite von AKP werden sämtliche Spenden und ihre Verwendung aufgelistet – eine in der Türkei unübliche Transparenz. Es klingt nicht abwegig, wenn Erdogan mit tiefer Stimme sagt: “Der türkische Staat braucht ein besseres Management.”
Aber welchen Staat will Erdogan? Die Militärs vergessen nicht, dass er vor dreißig Jahren im Nationalistischen Türkischen Studentenbundes Front machte gegen Demokratie, Laizismus und den Westen. Heute hat er in seinem Büro ein Bild von Kemal Atatürk mit Abgeordneten des ersten Parlaments der Republik aufgehängt. Alles nur zum Schein?
Eine Gesandtschaft der AK-Partei ist gerade zurückgekehrt von einer Reise nach London, Boston und New York. Erdogan wollte dort, wo man ihm und seiner Partei skeptisch begegnet, gut Wetter machen. “Wir möchten eine Partei, die offen ist für die Märkte und für die Investoren”, sagt er. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen müsse wiederhergestellt werden. “Denn wir wollen die enge Kooperation mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.” Besser hätte es ein Prediger der Globalisierung nicht sagen können. Und wie hält er’s mit der EU und deren für die Türkei so schwer verdaulichen Rechtsstandards? “Unser Land hat ein ernstes Problem mit Freiheitsrechten. Ich bin für die volle Durchsetzung der EU-Gesetze, um die Türkei für einen Beitritt zur Union zu qualifizieren. Sie helfen uns auf dem Weg zu einer besseren Demokratie.”
Erdogan bekennt sich rückhaltloser und selbstkritischer zur EU als die meisten seiner politischen Konkurrenten. Aber nicht über die EU streitet er mit der Staatsmacht. Der Zwist geht um eine scheinbare Nebensächlichkeit: die Kleiderordnung. Der Generalstaatsanwalt zum Beispiel nahm Anstoß daran, dass bei der Gründung der AK-Partei sechs Frauen mit Kopftüchern anwesend waren.
Ein strenger Kemalist findet so etwas empörend. Generell dürfen türkische Frauen in öffentlichen Gebäuden, in Behörden, im Parlament, aber auch an den Universitäten kein Kopftuch tragen. “Daran wird sich nichts ändern, so lange das Kopftuch religiös ausgenutzt wird”, ließ die Familienministerin unlängst wissen. Dieses staatliche Kleiderdiktat stellt viele gläubige muslimische Frauen vor ein Problem. Auch Erdogans Töchter, die wie ihre Mutter ein Kopftuch tragen. Der Vater hat deshalb beide Töchter ins westliche Ausland geschickt, damit sie studieren können – mit Kopftuch.
Das Thema erregt den Vorsitzenden sichtlich. “Für mich ist das Tragen eines Kopftuches nicht Symbol für eine politischen Bewegung, sondern ein Grundrecht”, sagt Erdogan. Die Türkei verletze Menschenrechte, wenn sie Studentinnen wegen ihres Äußeren von der Uni ausschließe. “Das muss aufhören.
Wir wollen einen angelsächsischen Säkularismus. Jeder soll seine Religion praktizieren, aber niemandem darf sie aufgezwungen werden.” So denkt Erdogan, so spricht er. Aber handelt er auch so?
Vorsicht ist geboten. Immerhin waren es auch die Kopftuchkrisen, die früher zu den Verboten der islamistischen Parteien von Necmettin Erbakan führten.
Erdogan habe daraus gelernt, lautet das jüngste Gerücht in Ankara. Stelle die AK-Partei nach den Wahlen die Regierung, so die Zeitung Hürriyet, dürfe niemand Premier, Außen- oder Verteidigungsminister werden, dessen Frau ein Kopftuch trage. Bloß nicht die Generäle reizen. Erdogan schwieg zu dem Gerücht. Alles andere wäre eine Dummheit. Denn viele seiner Wähler sind Kopftuchträgerinnen oder deren Ehegatten.
Offen bleibt also, wer Premier wird, wenn Erdogan am nächsten Wochenende die Wahl gewinnt. Offen ist auch, ob der Generalstaatsanwalt wirklich noch ein Verbotsverfahren gegen die AK-Partei betreibt. Sicher scheint nur so viel: Bei dieser Wahl werden die kleinen Mitte-rechts-Parteien, die im vergangenen Jahrzehnt die Macht hatten, aus dem Parlament vertrieben. Doch damit rutscht die Türkei nicht nach links, im Gegenteil. Genosse Trend wählt heute konservativ. Das ist die Chance für eine Volkspartei der rechten Mitte, für eine Art muselmanischer CSU, wertkonservativ und prowestlich-demokratisch.
Also für eine Partei wie die AKP von Erdogan.
Manche Türken meinen, eine AKP-Regierung sei ein Experiment mit unsicherem Ausgang. Vielleicht. Doch wenn es schief geht, greift ohnehin die Grundsatzabteilung für “Keine Experimente!” ein: das Militär. Die Generäle halten die Notbremse stets in der Hand. Es wäre schlimm für die türkische Demokratie, würden sie daran ziehen, bevor die AKP gezeigt hat, was sie wirklich will.